Sunday 16 September 2007

Memetik: Eine kurze Einführung

Seit Jahrtausenden dienen Menschen einem Replikator als Fahrzeug, trägt der Mensch mit seinem Handeln zur Erstellung von Kopien einer bestimmten Informationsträgerstruktur bei: Dem Gen.

Doch seitdem das menschliche Gehirn selbst Informationen kopieren kann, gerät es mehr und mehr in den Sog eines neuen Replikators: Dem Mem.

Texte, Melodien oder Grafiken werden vom Menschen aufgenommen und vervielfältigt. Immer mehr Zeit und Energie verwenden wir auf den Bau von Maschinen, die die kopiergenaue Fortpflanzung dieser Meme weiter vorantreiben: Radio, Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften, Computer und Internet. Immer mehr Menschen verschwenden ihre beschränkte Lebenszeit im Sklavendienst des neuen Replikators. Sind wir noch Herr unserer Entscheidungen?



Der Begriff „Mem“ wurde 1976 von dem Oxford-Zoologen Richard Dawkins geprägt. Er wird vom lateinischen memoria (Erinnerung) abgeleitet. Ein Mem ist folglich etwas, das erinnert wird. Cloak sprach von Kulturkörperchen, den kleinsten Informationseinheiten. Dies kann zum Beispiel eine Melodie („Freude schöner ...“) sein, ein Witz, eine Grafik oder auch eine Modeerscheinung wie etwa eine bestimmte Krawattenmode. Zu unterscheiden sind exosomatische und innersomatische Meme. Exo- also ausserkörperliche Meme finden sich etwa in Texten, Bildern, Noten, gespeichert auf Papier oder CD. Innersomatisch verdaten sich Meme physikalisch als bestimmte Neuronenkonstellationen in Synapsengittern etwa im Rahmen einer Langzeitspeicherung und werden vor ihrem Transfer in die Außenwelt als mentale Repräsentationen innersomatisch manifest. Wird ein Proband etwa gefragt, wie viele Fenster das Wohnzimmer seines besten Freundes aufweist, so wird er sich zunächst das Wohnzimmer in Form einer mentalen Repräsentation visualisierend in Erinnerung rufen und anhand dieses mentalen Bildes die Zimmerfenster zählen. Hier wird ein image-Mem (iMem) zunächst als mentale Repräsentation innersomatisch realisiert, bevor es womöglich außersomatisch in Form einer Skizze des Wohnzimmers seinen Niederschlag findet. Die Skizze auf dem Papier wäre der Phänotyp, der exosomatische Ausdruck, des innersomatisch gespeicherten Mems. Die Skizze könnte daher auch als phänotypisches Mem (pMem) und die gespeicherte Neuronenkonstellation als gMem für genotypisches Mem bezeichnet werden. Diese gewählten Begriffe lehnen sich bewusst an den Begriffen der Genetik an. Auch hier wird der Bauplan des Körpers als Genotyp – gespeichert auf der DNS – bezeichnet. Eine Abfolge von Aminosäuren bilden hier die in Eiweiße zu übersetzenden „Buchstabenfolgen“ der genetischen Information. Der fertige Organismus stellt dann den Phänotyp, die optisch sichtbare Erscheinungsform dieses Bauplans dar. Dawkins hat den Begriff „Mem“ bewusst an „Gen“ angelehnt, denn die Parallelen liegen auf der Hand: Sowohl bei den kleinsten Kulturkörperchen wie auch den Buchstaben des Lebens handelt es sich letztendlich lediglich um Informationseinheiten. Folglich liegt die Vermutung nahe, dass Natur und Kultur in Vererbung und Wachstum ähnlichen, wenn nicht gleichen neodarwinistischen Gesetzen folgen.

Eine durchgreifende Darwinisierung der Kulturwissenschaften ist folglich nicht ganz so abwegig, wie es zunächst erscheinen mag. In beiden Fällen dreht sich alles nur um eines: Die Replikation von Informationseinheiten. In der Ursuppe waren es zufällige Molekülfolgen, die chemischer Affinität folgend in einem Schlüssel-Schloss-Verfahren andere Moleküle an sich gekettet haben und bei einer Trennung Positiv und Negativ erzeugten, so dass hier nun neue Moleküle andocken konnten. Der Kopiervorgang begann. Später erwies es sich als evolutionär lohnend, Schutzhüllen zum Transport um diese Urformen unserer heutigen DNS zu legen: Eiweißhüllen, die heutigen Organismen - wir. Ein Ziel verfolgt die Evolution nicht. Sie ist nicht zielgerichtet, sondern sinnlos und ihr Ausgang ist offen. Nur eines ist sicher: Die oben genannten Bedingungen setzen die Leitplanken der Evolution der Lebewesen. Aber schon der Begriff Lebewesen ist falsch: Denn wo beginnt das Leben? In der Kopieerstellung von Aminosäuren? In Ihrer Fruchtbarkeit? Wenn ich dies gelten lasse, dann muss ich nicht nur einem Schnupfenvirus, dass sich des Trägersystems Mensch bedient, um seine Fruchtbarkeit zu erhöhen, in dem es den Menschen zum Niesen zwingt und damit zum Verbreiten seiner Kopien, als „lebend“ bezeichnen, sondern auch die Informationseinheit, die sich des Gehirns des Menschen als neuer Ursuppe zur Verbreitung seiner selbst, zur Herstellung von weiteren Kopien seiner selbst bedient. Eine Informationseinheit, das Mem, dass nicht einmal seinem Trägersystem symbiotisch nutzen muss – so wie es auch beim Schnupfenvirus nicht der Fall ist, sondern ihm auch als Parasit schaden kann.

Wenn schon der Mensch als Replikationssklave seiner Gene betrachtet werden kann, dann kann er auch als Replikationssklave auf ihn eindringender kultureller Informationseinheiten, der Meme, gesehen werden. Und billigen wir der DNS als – evolutionsgeschichtlich betrachtet - erstem Replikator das Attribut „Leben“ zu, so kommen wir nicht umhin, dies auch dem zweiten Replikator, dem Mem, zuzuerkennen. Wie der erste Replikator haben auch Meme dabei keinen eigenen Willen, kein Ziel, replizieren sich sinnlos – aber sie kopieren sich im Rahmen bestimmter, feststehender Evolutionsleitplanken: Mutation, Selektion, Kopiergenauigkeit, agieren daher als „hätten“ sie einen eigenen Willen. Auch sie „streben“ nach Fruchtbarkeit und Langlebigkeit – wie wir, die Schutzhüllen und Transportvehikel des ersten Replikators. Ein Bürohochhaus für 2000 Sachbearbeiter einer Versicherung, deren wichtigste Werkzeuge heute das Internet, der Kopierer und der Postein –und ausgang sind, kann daher aus Perspektive der neodarwinistischen Memetik noch am ehesten als Legebatterie von Memreplikationsmaschinen gesehen werden. Nicht die Vorgänge in unserer Gesellschaft ändern sich durch die Memetik, aber unsere Sicht auf sie. Schulen und Universitäten sind Hirnselektionsanstalten im Dienst der Meme: Getestet und selektiert wird auf Auswendiglernen von Memen, Komplexität der Memrekombination und Geschwindigkeit des Memtransfers. Für Akademikerkarrieren gilt häufig: „Publish or Perish“, publiziere oder stirb.

Ein letztes Beispiel für die mögliche Analogie zwischen Gen- und Memtransfer: Werden über mehrere tausend Jahre Tiere von ihrer Ausgangspopulation – etwa geologisch bedingt durch einen Kontinentaldrift– abgeschnitten, so entwickeln sich eigene Arten, die mit den Ausgangsarten nicht mehr kompatibel kreuzbar sind. Die Entwicklung der Beuteltiere in Australien mag hierfür als Beispiel dienen. Isoliere ich in einem Schweizer Bergtal mehrere hundert Menschen über lange Zeit hinweg, so kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit im Tal zur Ausbildung eines Sprachendialekts, der im Extremfall eine vollkommene Inkompatibilität mit der Sprache der Ausgangspopulation nachsichzieht: Man versteht sich nicht mehr. Einem fruchtbaren Memaustausch wird so ein Riegel vorgeschoben. Ausdifferenzierung ist in beiden Fällen das Stichwort.

Eine dem Memtransfer vorausgehende Fähigkeit ist die der Imitation. Ich schaue etwa meinem älteren Bruder bei der Fahrradreparatur über die Schulter und lerne dabei. Dieses Imitationslernen beherrscht nicht nur der Mensch – vermutlich seit etwa drei Millionen Jahren – sondern auch verschiedene Tierarten wie etwa Vögel. Sie imitieren gehörte Melodien und replizieren sie so. Vögeln wird dies bereits für einen Zeitraum von 40 Millionen Jahren attestiert. Memtransfer ist also nichts Neues, allerdings ändern sich die Infektionstechniken. Waren es beim Menschen vor 150 Jahren noch in erster Linie Erziehung, Religionslehre und Tratsch, so haben sich heute TV-Inhalte, die Popmusik und die Werbung hinzugesellt. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist aus Perspektive der Memetik eine durch immer perfektere Replikationshilfen geprägte Geschichte: Vom antiken Griffel, über den Stift, Bibliotheken, das Buch bis hin zu Internet und CD-ROM. All diese Mittel erhöhen die Kopiergenauigkeit, die Fruchtbarkeit und die Langlebigkeit der Meme.

Was heißt dies für die Ideengeschichte? In Zukunft macht es Sinn, den Fokus nicht nur auf das Trägersystem der Meme, den Menschen, zu lenken, sondern das Leben eines Memkomplexes und seine Mutationen einerseits in seiner Zeit – horizontal - , aber auch durch die Zeit – vertikal – zu betrachten. Das haben etliche Autoren auch schon vor der Ausbildung der Memetik geleistet, aber die Gewichtung Mensch-Idee verschiebt sich zukünftig Richtung Mem, das zunehmend als zum Trägersystem konkurrierender Replikator erkannt und in seinem eigenen „Bestreben“ untersucht und anerkannt werden sollte.

Fallbeispiel Artikelgenese: Ein Redakteur wird mit dem Abfassen eines Artikels betraut. Hierfür holt er sich zunächst von einem Experten telefonisch Informationen. Durch die Hintergrundgeräusche des Handys des Informanten sind einige Details schlecht zu verstehen und werden von unserem Redakteur falsch notiert. Die Information mutiert an dieser Stelle. Nach der Mutation folgt die Selektion: Die Chefredakteurin kürzt den Artikel um ihr unwichtig erscheinende Passagen und ergänzt vielleicht sogar einige Passagen, von denen sie annimmt, dass die Leserschaft ihrer Zeitung sie gerne liest. Ist die Zielgruppe eher älter, wird sie vielleicht noch einen kleinen Informationskasten zu dem Thema unter dem Motto „So war es vor 40 Jahren“ einbauen. Sie passt sich zwecks besserer Verbreitung des Hauptartikels ihrer Zielgruppe in Teilbereichen an. So macht vielleicht einer der Senioren, die den Artikel gelesen haben, sogar eine Bekannte auf diesen interessanten – auch sie betreffenden – Artikel aufmerksam. Dann geht der Artikel in die Druckerei. Nach Dreivierteln des Drucks, verschmieren einige Typen der Druckmaschine: Die Kopiergenauigkeit der Information sinkt für einen Teil der Informationen. Am nächsten Morgen freut sich der Redakteur beim Frühstück über seinen Artikel: Da am letzten Samstag die Auflage erneut um 20.000 Exemplare gesteigert wurde, liegt die Fruchtbarkeit seines Artikels höher als die des Artikels von letzten Donnerstag. Jetzt fehlt nur noch eins zum Glück unseres Redakteurs: Ein guter Archivar muss dafür Sorge tragen, dass die Langlebigkeit der von ihm zusammengestellten Informationen gesteigert wird. Nur so besteht auch die Chance auf fortgesetzte Fruchtbarkeit etwa im Rahmen einer Zitation oder eines Jahrzehnte später erfolgenden Reprints. Mutation, Selektion, Kopiergenauigkeit, Fruchtbarkeit und Langlebigkeit – es sind eben diese Rahmenbedingungen, die die genetische Reproduktion bedingen.

Welche weiteren Einrichtungen und Gebote sichern die Fruchtbarkeit der Meme? Das Zölibat. Der tatsächlich in zölibatärer, sexueller Askese lebende Prediger kann als Opfer der Meme gesehen werden, wird doch seine genetische Reproduktion unterdrückt, um all seine Energien auf die Erhöhung seines memetischen Outputs – Schriftlesungen, Predigten, Abfassung von Bibelexegesen oder auch den Vortrag religiöser Gebete und Hymnen – zu konzentrieren. Im Tierreich ist die chemische Kastration des Wirtes durch den Parasiten bekannt, um alle Energien des Wirtes dem Parasiten verfügbar zu machen.

Dabei geht es etwa bei der Religion nicht nur um ein Mem, sondern ein ganzes Sammelsurium von Memen, die sich unter einem Thema zusammengefunden haben, einen Memkomplex, kurz „Memplex“. Hierzu zählen auch die Gebete. Im Gebet werden die bereits kopierten Meme pünktlich der Auffrischung zugeführt. Hinzu kommt das Gebotmem eines theokratischen Arbeitsverbotes für die Prediger – zur Sicherstellung einer ungehinderten, permanenten Neuinfektion der Hörer mit diesem Memplex. Damit die Prediger auch problemlos erkannt und so hofiert werden konnten, gab es ein entsprechendes Kleidungsmem: Die Erwählten sind an besonderen Gewändern und Hüten erkennbar. Viele dieser Tricks gehören auch heute noch zum Repertoire der Propaganda- und Marketingexperten, den Meistern der Memtechnologie, des memetic engineering – und das sind nicht nur die Fernsehprediger.

Quelle: Franz Wegener, Autor von "Memetik. Der Krieg des neuen Replikators gegen den Menschen".

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