Monday 17 September 2007

Deutungsmuster: Wissens-Soziologie

Unter Deutungsmuster werden in der Wissenssoziologie im individuellen Wissensvorrat abgelagerte Sinnschemata verstanden, die als Sinnzusammenhänge die Wahrnehmung vorprägen und somit die wahrgenommene Umwelt eines Individuums so reduzieren und strukturieren, dass Orientierung, Identität und Handeln möglich wird. (Vgl. dazu in der Soziologie auch „Muster“ („Pattern“) bzw. die Pattern Variables von Talcott Parsons.)

Das Konzept der Deutungsmuster geht zurück auf Alfred Schütz. Nach Schütz setzt sich der alltägliche Wissensvorrat aus Typisierungen von Erfahrungen und bewährten Problemlösungen zusammen. Diese Schemata werden in der Erfahrung aktualisiert, indem ein Gegenstand als ein Exemplar einer Typenklasse erfasst und gleichzeitig seine besonderen Merkmale gegenüber dem allgemeinen Typus bestimmt werden. Miteinander verbundene Deutungsschemata bilden Sinnzusammenhänge und Typen, die die Wahrnehmung strukturieren und dabei diejenigen Deutungsmöglichkeiten unterdrücken, die für die aktuelle Situation des Individuums nicht relevant sind. Typisierende Deutungen sind also selektiv, wobei die Selektionskriterien wesentlich sozial bedingt sind, da sie durch soziales Lernen erworben und auf gesellschaftliche Handlungsprobleme bezogen sind. Erlebnisse werden so immer im Rahmen bereits vorgeformter Sinnzusammenhänge wahrgenommen und gedeutet. (siehe auch Gestalttheorie)

Komplexe typisierender Problemlösungen, die sich aufgrund gesellschaftlicher und subjektiv-biographisch bedingter Interessenlagen entwickeln, können auch als soziale Deutungsmuster bezeichnet werden. Soziale Deutungsmuster bilden handlungsanleitende Alltagstheorien, die es den Gesellschaftsmitgliedern erlauben, ihre sozialen Erfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen. Sie besitzen eine identitätsstiftende Funktion, die den Einzelnen in der sozialen Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, verorten, und seine individuelle Biographie mit den gesellschaftlichen Handlungsanforderungen synthetisieren.

Die interne Logik, Konsistenz und Kongruenz der sozialen Deutungsmuster stellt die Aufrechterhaltung individueller und sozialer Handlungsfähigkeit sicher. Deutungsmuster sind aber dennoch nicht als in sich abgeschlossene, ausformulierte und vorgefertigte Interpretationsraster zu verstehen, sondern müssen - jeder Erfahrung zwar implizit mitgegeben - in einer aktuellen Handlungssituation immer erst „ausbuchstabiert“ und im konkreten Lebenslauf individuell ausdifferenziert werden. Sie sind offen für Veränderungen, indem die Interpretations- und Übertragungsregeln prinzipiell die Möglichkeit zu Thematisierung, Reflexion und argumentativem Handeln bereitstellen.

Da im Alltag gerade die typischen und typisch wiederholbaren Aspekte des Handelns von Interesse sind, und die Bewältigung von Routinesituationen ein „Rezeptwissen“ verlangt, reichen in vielen Situationen die vorhandenen Typisierungen aus, um erfolgreiche Deutungen und Handlungen zu vollziehen. Erst gänzlich neue Erfahrungen zwingen zu einem bewussten Überdenken der Deutungsschemata, ihrer teilweisen Revision oder Umstrukturierung und unter Umständen zur Bildung neuer Typen.

Auch Inkonsistenzen zwischen den Elementen des Wissensvorrates, zwischen den verschiedenen Deutungsmustern, werden so immer erst in der Konfrontation mit einem Handlungsproblem sichtbar, das sich nicht umstandlos vorhandenen Schemata fügt. In der „natürlichen Einstellung“ (Edmund Husserl) besteht im allgemeinen sonst keine Motivation, alle Wissenselemente thoretisch in Übereinstimmung zu bringen. Hieraus erklärt sich die Resistenz des Alltagsbewusstseins/-wissens gegenüber neuen Ideen und Theorien, sowie auch auf der anderen Seite krisenhaftes Erleben von Identitätsveränderungen in biografischen Übergängen oder durch das Einwirken großer Mengen an neuen, nicht unter die bisherigen Deutungsmuster subsumierbarer Informationen und Erfahrungen.

Für die empirische Analysepraxis konturiert wurde die Kategorie „Deutungsmuster“ 1973 durch ein Manuskript von Ulrich Oevermann, das erst drei Jahrzehnte später (Oevermann 2001) durch die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift einer breiten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Unmittelbar im Anschluss an das Manuskript Oevermanns entstanden in den siebziger und frühen achtziger Jahren zunächst eine ganze Reihe von Aufsätzen (Überblick bei: Plaß/Schetsche 2001), in denen die theoretische Skizze auf die unterschiedlichste Weise interpretiert und ergänzt wurde. Während die theoretischen Diskussionen in jenen Beiträgen stark von dem Anliegen einer Weiterentwicklung des Deutungsmusterkonzepts bestimmt waren, konzentrieren sich die vereinzelten Beiträge der neunziger Jahre (typisch: Meuser/Sackmann 1992, Lüders/Meuser 1997) darauf, die Ergebnisse der älteren Debatte zu resümieren und sie in einen wissenschaftshistorischen Kontext zu stellen. Diese Debatte wurde durch einen Versuch Oevermanns zur „Aktualisierung“ seines Konzepts (Oevermann 2001a) und einen unmittelbar darauf antwortenden Vorschlag von Plaß und Schetsche (2001) zu einer stärker wissenssoziologischen Fundierung der Deutungsmusteranalyse fortgesetzt. Das letztgenannte – an den Sozialkonstruktivismus anschließende – theoretisch-methodische Programm schließt einen radikalen Perspektivenwechsel ein: Deutungsmuster wird vom subjektorientierten Schematakonzept zur Formkategorie sozialen Wissens.

Den Deutungsmustern verwandt sind Konzepte wie subjektive Theorien, Paradigma, Denkstil und mentale Modelle.

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