Monday 17 September 2007

Soziologie: Soziales Handeln

Der Begriff soziales Handeln bedeutet in der Soziologie ein „Handeln“ (Tun, Dulden oder Unterlassen), das für den Handelnden (den "Akteur") subjektiv mit "Sinn" verbunden ist. Je nach Auslegung des Begriffes definiert sich soziales Handeln auch dadurch, dass es auf Andere bezogen, "sinnhaft" am Verhalten Anderer orientiert ist. Er wurde für die Sozialwissenschaften maßgeblich in der Nachfolge von Max Weber geprägt.

Sinn bedeutet also den vom Akteur verstandenen "Sinn", in der Regel verstanden als seine Absicht, das der Handlung zugrundeliegende Ziel. Für Unbeteiligte muss die Handlung jedoch nicht unbedingt sinnvoll erscheinen. Aus dem Sinn lässt sich die Motivation zum Handeln erschließen. „Sozial“ ist dieses Handeln dann, wenn es seinem Sinn nach wechselseitig auf das Handeln anderer bezogen wird und sich in seinem Verlauf daran orientiert. Diese Anderen müssen nicht physisch anwesend sein. Wird das Handeln an abstrakten, allgemein verbindlichen Regeln (Normen, Gesetzen) ausgerichtet, also an einer bestehenden Ordnung und nicht an privaten Deutungen, spricht Weber von Gesellschaftshandeln.

Eine Theorie vom "sozialen Handeln" muss wie jede Theorie des „Handelns“ eine (anthropologische, biosoziologische) Theorie des sozialen "Akteurs" axiomatisieren. Ältere Ansätze (so der von Ferdinand Tönnies) benutzen als Sinnstifter für das handelnde Subjekt das Konzept des Willens oder (so Jürgen Habermas) der Reflexion, die meisten jüngeren das Konzept der „Ratio“ (→ Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice theory), etwa bei Hartmut Esser) oder die „Autopoiesis“ (so Niklas Luhmann). Siehe im Übrigen dazu die Artikel über das Handeln und die Arbeit.

Der Kontrastbegriff zum „sozialen Handeln“ ist in der Soziologie das „Sozialverhalten“. Dessen Ansatz umgeht die „Sinn“-Kategorie (bzw. sie ist ihm stets eine ideologische Aussage), so dass sich „Verhalten“ mit dem von Tieren, ja Pflanzen und Robotern vergleichen lässt und vor allem der Brückenschlag zur Soziobiologie wenig Mühe macht (weniger Mühe zu machen scheint).

Von anderen Autoren, wie z.B. Norbert Elias, wird der Begriff des sozialen Handelns als irreführend und unnötig verworfen. Da die Sozialität, also das Zusammenleben in Gesellschaften, ein fundamentales Merkmal unserer Spezies sei, gebe es kein menschliches Handeln, das nicht sozial sei, d.h. in irgend einer Hinsicht auf andere Menschen bezogen.

Deutungsmuster: Wissens-Soziologie

Unter Deutungsmuster werden in der Wissenssoziologie im individuellen Wissensvorrat abgelagerte Sinnschemata verstanden, die als Sinnzusammenhänge die Wahrnehmung vorprägen und somit die wahrgenommene Umwelt eines Individuums so reduzieren und strukturieren, dass Orientierung, Identität und Handeln möglich wird. (Vgl. dazu in der Soziologie auch „Muster“ („Pattern“) bzw. die Pattern Variables von Talcott Parsons.)

Das Konzept der Deutungsmuster geht zurück auf Alfred Schütz. Nach Schütz setzt sich der alltägliche Wissensvorrat aus Typisierungen von Erfahrungen und bewährten Problemlösungen zusammen. Diese Schemata werden in der Erfahrung aktualisiert, indem ein Gegenstand als ein Exemplar einer Typenklasse erfasst und gleichzeitig seine besonderen Merkmale gegenüber dem allgemeinen Typus bestimmt werden. Miteinander verbundene Deutungsschemata bilden Sinnzusammenhänge und Typen, die die Wahrnehmung strukturieren und dabei diejenigen Deutungsmöglichkeiten unterdrücken, die für die aktuelle Situation des Individuums nicht relevant sind. Typisierende Deutungen sind also selektiv, wobei die Selektionskriterien wesentlich sozial bedingt sind, da sie durch soziales Lernen erworben und auf gesellschaftliche Handlungsprobleme bezogen sind. Erlebnisse werden so immer im Rahmen bereits vorgeformter Sinnzusammenhänge wahrgenommen und gedeutet. (siehe auch Gestalttheorie)

Komplexe typisierender Problemlösungen, die sich aufgrund gesellschaftlicher und subjektiv-biographisch bedingter Interessenlagen entwickeln, können auch als soziale Deutungsmuster bezeichnet werden. Soziale Deutungsmuster bilden handlungsanleitende Alltagstheorien, die es den Gesellschaftsmitgliedern erlauben, ihre sozialen Erfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen. Sie besitzen eine identitätsstiftende Funktion, die den Einzelnen in der sozialen Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, verorten, und seine individuelle Biographie mit den gesellschaftlichen Handlungsanforderungen synthetisieren.

Die interne Logik, Konsistenz und Kongruenz der sozialen Deutungsmuster stellt die Aufrechterhaltung individueller und sozialer Handlungsfähigkeit sicher. Deutungsmuster sind aber dennoch nicht als in sich abgeschlossene, ausformulierte und vorgefertigte Interpretationsraster zu verstehen, sondern müssen - jeder Erfahrung zwar implizit mitgegeben - in einer aktuellen Handlungssituation immer erst „ausbuchstabiert“ und im konkreten Lebenslauf individuell ausdifferenziert werden. Sie sind offen für Veränderungen, indem die Interpretations- und Übertragungsregeln prinzipiell die Möglichkeit zu Thematisierung, Reflexion und argumentativem Handeln bereitstellen.

Da im Alltag gerade die typischen und typisch wiederholbaren Aspekte des Handelns von Interesse sind, und die Bewältigung von Routinesituationen ein „Rezeptwissen“ verlangt, reichen in vielen Situationen die vorhandenen Typisierungen aus, um erfolgreiche Deutungen und Handlungen zu vollziehen. Erst gänzlich neue Erfahrungen zwingen zu einem bewussten Überdenken der Deutungsschemata, ihrer teilweisen Revision oder Umstrukturierung und unter Umständen zur Bildung neuer Typen.

Auch Inkonsistenzen zwischen den Elementen des Wissensvorrates, zwischen den verschiedenen Deutungsmustern, werden so immer erst in der Konfrontation mit einem Handlungsproblem sichtbar, das sich nicht umstandlos vorhandenen Schemata fügt. In der „natürlichen Einstellung“ (Edmund Husserl) besteht im allgemeinen sonst keine Motivation, alle Wissenselemente thoretisch in Übereinstimmung zu bringen. Hieraus erklärt sich die Resistenz des Alltagsbewusstseins/-wissens gegenüber neuen Ideen und Theorien, sowie auch auf der anderen Seite krisenhaftes Erleben von Identitätsveränderungen in biografischen Übergängen oder durch das Einwirken großer Mengen an neuen, nicht unter die bisherigen Deutungsmuster subsumierbarer Informationen und Erfahrungen.

Für die empirische Analysepraxis konturiert wurde die Kategorie „Deutungsmuster“ 1973 durch ein Manuskript von Ulrich Oevermann, das erst drei Jahrzehnte später (Oevermann 2001) durch die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift einer breiten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Unmittelbar im Anschluss an das Manuskript Oevermanns entstanden in den siebziger und frühen achtziger Jahren zunächst eine ganze Reihe von Aufsätzen (Überblick bei: Plaß/Schetsche 2001), in denen die theoretische Skizze auf die unterschiedlichste Weise interpretiert und ergänzt wurde. Während die theoretischen Diskussionen in jenen Beiträgen stark von dem Anliegen einer Weiterentwicklung des Deutungsmusterkonzepts bestimmt waren, konzentrieren sich die vereinzelten Beiträge der neunziger Jahre (typisch: Meuser/Sackmann 1992, Lüders/Meuser 1997) darauf, die Ergebnisse der älteren Debatte zu resümieren und sie in einen wissenschaftshistorischen Kontext zu stellen. Diese Debatte wurde durch einen Versuch Oevermanns zur „Aktualisierung“ seines Konzepts (Oevermann 2001a) und einen unmittelbar darauf antwortenden Vorschlag von Plaß und Schetsche (2001) zu einer stärker wissenssoziologischen Fundierung der Deutungsmusteranalyse fortgesetzt. Das letztgenannte – an den Sozialkonstruktivismus anschließende – theoretisch-methodische Programm schließt einen radikalen Perspektivenwechsel ein: Deutungsmuster wird vom subjektorientierten Schematakonzept zur Formkategorie sozialen Wissens.

Den Deutungsmustern verwandt sind Konzepte wie subjektive Theorien, Paradigma, Denkstil und mentale Modelle.

Sunday 16 September 2007

Residuum: Das "soziale Atom"

Der bedeutende Soziologe, Sozialpsychologe und Volkswirt Vilfredo Pareto hat eine besondere Lehre der sozialen Residuen als "präreflexiver Deutungsmuster" (so Maurizio Bach) entwickelt.

Für den sehr stark naturwissenschaftlich-induktiv denkenden Pareto war ein Residuum gleichsam ein soziales Atom, das sich nicht mehr 'spalten' lässt, eine wirkende Restgröße, die keinen "Instinkt", "Trieb" noch gar einen "Grundsatz" darstellt, nichtsdestoweniger aber den Menschen unausweichlich lenkt. Dies wird freilich selten genug eingestanden, sondern der Mensch findet immer wieder beschönigende Erklärungen ("Derivate"), mit denen er seine Handlungen erläutert.

Handlungen gehen nach Pareto auf nur sechs verschiedene "Klassen" von "Residuen" zurück:

* I: der "Instinkt der Kombinationen" (kein "Instinkt im zoologischen Sinn! - sondern ein Handlungskomplex, der z.B. habituelles 'Tricksen'/'Chinchen' umfassen kann)
* II: die "Persistenz der Aggregate" (das Bedürfnis nach stabilen sozialen Verhältnissen, verbunden mit unbefangener Gewaltanwendung zu deren Etablierung oder Bewahrung)
* III: das Bedürfnis, Gefühle durch Handlungen zu bekunden,
* IV: das Bedürfnis nach Soziabilität, d.h. danach, Andere und sich einander anzupassen,
* V: das Streben nach Integrität des Individuums und dessen, was ihm eigen ist (Attribute, auch Besitztümer),
* VI: das sexuelle Residuum (kein "Trieb" - sondern auch hier ein Handlungskomplex, der durchaus auch Askese umfassen kann).

Da Pareto den Unterschied zwischen sozialer "Revolution" und "Evolution" mit Hilfe der beiden Residuen der I. und II. Klasse erklärt, sind diese zwei die bekanntesten geworden. Bildlich gesprochen bezeichnet der "Instinkt der Kombinationen" die (von Pareto - Machiavelli folgend - so genannten) "Füchse", die "Persistenz der Aggregate" die "Löwen". Unausweichlich lösen in der politischen Herrschaft nach ihm die "Füchse" die "Löwen" evolutionär ab, hingegen die "Löwen" die Füchse" revolutionär.

Beide Residuen unterscheiden bei ihm in der Wirtschaft entsprechend die "Spekulanten" von den "Rentiers", und mit diesen Kategorien lassen sich langfristige Entwicklungen des Kapitalmarktes untersuchen.

Memetik: Eine kurze Einführung

Seit Jahrtausenden dienen Menschen einem Replikator als Fahrzeug, trägt der Mensch mit seinem Handeln zur Erstellung von Kopien einer bestimmten Informationsträgerstruktur bei: Dem Gen.

Doch seitdem das menschliche Gehirn selbst Informationen kopieren kann, gerät es mehr und mehr in den Sog eines neuen Replikators: Dem Mem.

Texte, Melodien oder Grafiken werden vom Menschen aufgenommen und vervielfältigt. Immer mehr Zeit und Energie verwenden wir auf den Bau von Maschinen, die die kopiergenaue Fortpflanzung dieser Meme weiter vorantreiben: Radio, Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften, Computer und Internet. Immer mehr Menschen verschwenden ihre beschränkte Lebenszeit im Sklavendienst des neuen Replikators. Sind wir noch Herr unserer Entscheidungen?



Der Begriff „Mem“ wurde 1976 von dem Oxford-Zoologen Richard Dawkins geprägt. Er wird vom lateinischen memoria (Erinnerung) abgeleitet. Ein Mem ist folglich etwas, das erinnert wird. Cloak sprach von Kulturkörperchen, den kleinsten Informationseinheiten. Dies kann zum Beispiel eine Melodie („Freude schöner ...“) sein, ein Witz, eine Grafik oder auch eine Modeerscheinung wie etwa eine bestimmte Krawattenmode. Zu unterscheiden sind exosomatische und innersomatische Meme. Exo- also ausserkörperliche Meme finden sich etwa in Texten, Bildern, Noten, gespeichert auf Papier oder CD. Innersomatisch verdaten sich Meme physikalisch als bestimmte Neuronenkonstellationen in Synapsengittern etwa im Rahmen einer Langzeitspeicherung und werden vor ihrem Transfer in die Außenwelt als mentale Repräsentationen innersomatisch manifest. Wird ein Proband etwa gefragt, wie viele Fenster das Wohnzimmer seines besten Freundes aufweist, so wird er sich zunächst das Wohnzimmer in Form einer mentalen Repräsentation visualisierend in Erinnerung rufen und anhand dieses mentalen Bildes die Zimmerfenster zählen. Hier wird ein image-Mem (iMem) zunächst als mentale Repräsentation innersomatisch realisiert, bevor es womöglich außersomatisch in Form einer Skizze des Wohnzimmers seinen Niederschlag findet. Die Skizze auf dem Papier wäre der Phänotyp, der exosomatische Ausdruck, des innersomatisch gespeicherten Mems. Die Skizze könnte daher auch als phänotypisches Mem (pMem) und die gespeicherte Neuronenkonstellation als gMem für genotypisches Mem bezeichnet werden. Diese gewählten Begriffe lehnen sich bewusst an den Begriffen der Genetik an. Auch hier wird der Bauplan des Körpers als Genotyp – gespeichert auf der DNS – bezeichnet. Eine Abfolge von Aminosäuren bilden hier die in Eiweiße zu übersetzenden „Buchstabenfolgen“ der genetischen Information. Der fertige Organismus stellt dann den Phänotyp, die optisch sichtbare Erscheinungsform dieses Bauplans dar. Dawkins hat den Begriff „Mem“ bewusst an „Gen“ angelehnt, denn die Parallelen liegen auf der Hand: Sowohl bei den kleinsten Kulturkörperchen wie auch den Buchstaben des Lebens handelt es sich letztendlich lediglich um Informationseinheiten. Folglich liegt die Vermutung nahe, dass Natur und Kultur in Vererbung und Wachstum ähnlichen, wenn nicht gleichen neodarwinistischen Gesetzen folgen.

Eine durchgreifende Darwinisierung der Kulturwissenschaften ist folglich nicht ganz so abwegig, wie es zunächst erscheinen mag. In beiden Fällen dreht sich alles nur um eines: Die Replikation von Informationseinheiten. In der Ursuppe waren es zufällige Molekülfolgen, die chemischer Affinität folgend in einem Schlüssel-Schloss-Verfahren andere Moleküle an sich gekettet haben und bei einer Trennung Positiv und Negativ erzeugten, so dass hier nun neue Moleküle andocken konnten. Der Kopiervorgang begann. Später erwies es sich als evolutionär lohnend, Schutzhüllen zum Transport um diese Urformen unserer heutigen DNS zu legen: Eiweißhüllen, die heutigen Organismen - wir. Ein Ziel verfolgt die Evolution nicht. Sie ist nicht zielgerichtet, sondern sinnlos und ihr Ausgang ist offen. Nur eines ist sicher: Die oben genannten Bedingungen setzen die Leitplanken der Evolution der Lebewesen. Aber schon der Begriff Lebewesen ist falsch: Denn wo beginnt das Leben? In der Kopieerstellung von Aminosäuren? In Ihrer Fruchtbarkeit? Wenn ich dies gelten lasse, dann muss ich nicht nur einem Schnupfenvirus, dass sich des Trägersystems Mensch bedient, um seine Fruchtbarkeit zu erhöhen, in dem es den Menschen zum Niesen zwingt und damit zum Verbreiten seiner Kopien, als „lebend“ bezeichnen, sondern auch die Informationseinheit, die sich des Gehirns des Menschen als neuer Ursuppe zur Verbreitung seiner selbst, zur Herstellung von weiteren Kopien seiner selbst bedient. Eine Informationseinheit, das Mem, dass nicht einmal seinem Trägersystem symbiotisch nutzen muss – so wie es auch beim Schnupfenvirus nicht der Fall ist, sondern ihm auch als Parasit schaden kann.

Wenn schon der Mensch als Replikationssklave seiner Gene betrachtet werden kann, dann kann er auch als Replikationssklave auf ihn eindringender kultureller Informationseinheiten, der Meme, gesehen werden. Und billigen wir der DNS als – evolutionsgeschichtlich betrachtet - erstem Replikator das Attribut „Leben“ zu, so kommen wir nicht umhin, dies auch dem zweiten Replikator, dem Mem, zuzuerkennen. Wie der erste Replikator haben auch Meme dabei keinen eigenen Willen, kein Ziel, replizieren sich sinnlos – aber sie kopieren sich im Rahmen bestimmter, feststehender Evolutionsleitplanken: Mutation, Selektion, Kopiergenauigkeit, agieren daher als „hätten“ sie einen eigenen Willen. Auch sie „streben“ nach Fruchtbarkeit und Langlebigkeit – wie wir, die Schutzhüllen und Transportvehikel des ersten Replikators. Ein Bürohochhaus für 2000 Sachbearbeiter einer Versicherung, deren wichtigste Werkzeuge heute das Internet, der Kopierer und der Postein –und ausgang sind, kann daher aus Perspektive der neodarwinistischen Memetik noch am ehesten als Legebatterie von Memreplikationsmaschinen gesehen werden. Nicht die Vorgänge in unserer Gesellschaft ändern sich durch die Memetik, aber unsere Sicht auf sie. Schulen und Universitäten sind Hirnselektionsanstalten im Dienst der Meme: Getestet und selektiert wird auf Auswendiglernen von Memen, Komplexität der Memrekombination und Geschwindigkeit des Memtransfers. Für Akademikerkarrieren gilt häufig: „Publish or Perish“, publiziere oder stirb.

Ein letztes Beispiel für die mögliche Analogie zwischen Gen- und Memtransfer: Werden über mehrere tausend Jahre Tiere von ihrer Ausgangspopulation – etwa geologisch bedingt durch einen Kontinentaldrift– abgeschnitten, so entwickeln sich eigene Arten, die mit den Ausgangsarten nicht mehr kompatibel kreuzbar sind. Die Entwicklung der Beuteltiere in Australien mag hierfür als Beispiel dienen. Isoliere ich in einem Schweizer Bergtal mehrere hundert Menschen über lange Zeit hinweg, so kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit im Tal zur Ausbildung eines Sprachendialekts, der im Extremfall eine vollkommene Inkompatibilität mit der Sprache der Ausgangspopulation nachsichzieht: Man versteht sich nicht mehr. Einem fruchtbaren Memaustausch wird so ein Riegel vorgeschoben. Ausdifferenzierung ist in beiden Fällen das Stichwort.

Eine dem Memtransfer vorausgehende Fähigkeit ist die der Imitation. Ich schaue etwa meinem älteren Bruder bei der Fahrradreparatur über die Schulter und lerne dabei. Dieses Imitationslernen beherrscht nicht nur der Mensch – vermutlich seit etwa drei Millionen Jahren – sondern auch verschiedene Tierarten wie etwa Vögel. Sie imitieren gehörte Melodien und replizieren sie so. Vögeln wird dies bereits für einen Zeitraum von 40 Millionen Jahren attestiert. Memtransfer ist also nichts Neues, allerdings ändern sich die Infektionstechniken. Waren es beim Menschen vor 150 Jahren noch in erster Linie Erziehung, Religionslehre und Tratsch, so haben sich heute TV-Inhalte, die Popmusik und die Werbung hinzugesellt. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist aus Perspektive der Memetik eine durch immer perfektere Replikationshilfen geprägte Geschichte: Vom antiken Griffel, über den Stift, Bibliotheken, das Buch bis hin zu Internet und CD-ROM. All diese Mittel erhöhen die Kopiergenauigkeit, die Fruchtbarkeit und die Langlebigkeit der Meme.

Was heißt dies für die Ideengeschichte? In Zukunft macht es Sinn, den Fokus nicht nur auf das Trägersystem der Meme, den Menschen, zu lenken, sondern das Leben eines Memkomplexes und seine Mutationen einerseits in seiner Zeit – horizontal - , aber auch durch die Zeit – vertikal – zu betrachten. Das haben etliche Autoren auch schon vor der Ausbildung der Memetik geleistet, aber die Gewichtung Mensch-Idee verschiebt sich zukünftig Richtung Mem, das zunehmend als zum Trägersystem konkurrierender Replikator erkannt und in seinem eigenen „Bestreben“ untersucht und anerkannt werden sollte.

Fallbeispiel Artikelgenese: Ein Redakteur wird mit dem Abfassen eines Artikels betraut. Hierfür holt er sich zunächst von einem Experten telefonisch Informationen. Durch die Hintergrundgeräusche des Handys des Informanten sind einige Details schlecht zu verstehen und werden von unserem Redakteur falsch notiert. Die Information mutiert an dieser Stelle. Nach der Mutation folgt die Selektion: Die Chefredakteurin kürzt den Artikel um ihr unwichtig erscheinende Passagen und ergänzt vielleicht sogar einige Passagen, von denen sie annimmt, dass die Leserschaft ihrer Zeitung sie gerne liest. Ist die Zielgruppe eher älter, wird sie vielleicht noch einen kleinen Informationskasten zu dem Thema unter dem Motto „So war es vor 40 Jahren“ einbauen. Sie passt sich zwecks besserer Verbreitung des Hauptartikels ihrer Zielgruppe in Teilbereichen an. So macht vielleicht einer der Senioren, die den Artikel gelesen haben, sogar eine Bekannte auf diesen interessanten – auch sie betreffenden – Artikel aufmerksam. Dann geht der Artikel in die Druckerei. Nach Dreivierteln des Drucks, verschmieren einige Typen der Druckmaschine: Die Kopiergenauigkeit der Information sinkt für einen Teil der Informationen. Am nächsten Morgen freut sich der Redakteur beim Frühstück über seinen Artikel: Da am letzten Samstag die Auflage erneut um 20.000 Exemplare gesteigert wurde, liegt die Fruchtbarkeit seines Artikels höher als die des Artikels von letzten Donnerstag. Jetzt fehlt nur noch eins zum Glück unseres Redakteurs: Ein guter Archivar muss dafür Sorge tragen, dass die Langlebigkeit der von ihm zusammengestellten Informationen gesteigert wird. Nur so besteht auch die Chance auf fortgesetzte Fruchtbarkeit etwa im Rahmen einer Zitation oder eines Jahrzehnte später erfolgenden Reprints. Mutation, Selektion, Kopiergenauigkeit, Fruchtbarkeit und Langlebigkeit – es sind eben diese Rahmenbedingungen, die die genetische Reproduktion bedingen.

Welche weiteren Einrichtungen und Gebote sichern die Fruchtbarkeit der Meme? Das Zölibat. Der tatsächlich in zölibatärer, sexueller Askese lebende Prediger kann als Opfer der Meme gesehen werden, wird doch seine genetische Reproduktion unterdrückt, um all seine Energien auf die Erhöhung seines memetischen Outputs – Schriftlesungen, Predigten, Abfassung von Bibelexegesen oder auch den Vortrag religiöser Gebete und Hymnen – zu konzentrieren. Im Tierreich ist die chemische Kastration des Wirtes durch den Parasiten bekannt, um alle Energien des Wirtes dem Parasiten verfügbar zu machen.

Dabei geht es etwa bei der Religion nicht nur um ein Mem, sondern ein ganzes Sammelsurium von Memen, die sich unter einem Thema zusammengefunden haben, einen Memkomplex, kurz „Memplex“. Hierzu zählen auch die Gebete. Im Gebet werden die bereits kopierten Meme pünktlich der Auffrischung zugeführt. Hinzu kommt das Gebotmem eines theokratischen Arbeitsverbotes für die Prediger – zur Sicherstellung einer ungehinderten, permanenten Neuinfektion der Hörer mit diesem Memplex. Damit die Prediger auch problemlos erkannt und so hofiert werden konnten, gab es ein entsprechendes Kleidungsmem: Die Erwählten sind an besonderen Gewändern und Hüten erkennbar. Viele dieser Tricks gehören auch heute noch zum Repertoire der Propaganda- und Marketingexperten, den Meistern der Memtechnologie, des memetic engineering – und das sind nicht nur die Fernsehprediger.

Quelle: Franz Wegener, Autor von "Memetik. Der Krieg des neuen Replikators gegen den Menschen".

Thursday 13 September 2007

Praxisbeispiel: Unternehmen Gore - Wechselnde Führung

Es gibt bei Gore keine Chefs und auch keine Jobtitel wie Direktor, Manager, Sekretärin oder Präsident. Das Wort Boss ist als Schimpfwort verschrien und wird aktiv vermieden.

Neue Mitarbeiter werden einem Förderer oder „Starthelfer“ zugeordnet – einem Mentor also, nicht einem Chef. Jeder und niemand ist der Boss. Derjenige, dessen Kompetenz zu einem bestimmten Problem am besten passt, der „führt“.

Führung und Führende „entstehen“, so lautet das Firmencredo.

Es gibt auch keine Stellenbeschreibungen oder Karrierepläne. Die Personalauswahl findet durch die Mitarbeiter statt, die später auch mit dem Kandidaten zusammenarbeiten werden.

Vier Verhaltensprinzipien sind bei Gore festgeschrieben: Fairness, Freiheit, Commitment und Konsultation.

Gore - amerikanisches Industrieunternehmen
Umsatz: 1,8 Milliarden $, Mitarbeiter: 7000, Standorte: 45 weltweit. Gore hat vier Geschäftsbereiche: Textilien, Medizin, Industrie und Elektronik. Gore gilt als eines der innovationsstärksten Unternehmen weltweit. Kleine Teams entwickeln spektakuläre Produkte, z.B. Gore-Tex, und erwirtschaften exzellente Gewinne. In England wurde Gore 2006 zum dritten mal in Folge zum besten Arbeitgeber ernannt.

Quelle: "Führen mit flexiblen Zielen" von Niels Pfläging / Campus Verlag