Monday 17 August 2009

"Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel"

Frei nach Woody Allen ist die Wirklichkeit möglicherweise kein schöner Ort – aber der einzige, an dem man ein ordentliches Steak bekommt. Und Anhänger des Sachzwangs würden sagen, dass neben den objektiven Tatsachen imaginäre andere Wirklichkeiten ziemlich unwichtig sind.

Wir leben in mehreren Wirklichkeiten. Zu den Sachzwängen gehört das Gefühl. Wenn ein Mensch in seinen Gefühlen von der Realität beleidigt wird, will er, dass neben den Tatsachen seine Träume auch ein Recht haben. Es ist etwas Schönes, wenn ich eine Erfahrung, die mich quält und die ich im Augenblick für unveränderbar halte, verlasse und in eine andere Erfahrung eintauche. Das passiert, wenn wir träumen, ein Buch lesen oder wenn wir ins Kino gehen. Oft haben wir dann beim Wiedereintritt in die Wirklichkeit die Lösung für ein scheinbar unlösbares Problem. Wir haben sie im Traum gefunden. Ähnliches wird ja auch von Wissenschaftlern berichtet, die an einem Problem arbeiten und die Lösung unwillkürlich finden, während sie mit etwas völlig anderem beschäftigt sind. Träume stellen eine eigene Wirklichkeit her. Das ist der Antirealismus des Gefühls. Den soll man genauso ernst nehmen und wertschätzen wie die objektiven Tatsachen. Beide haben recht: die Träume und die Tatsachen. Das eine kann das andere nicht auslöschen. Das Nützliche allein ist nicht lebensfähig. Was mein Zwerchfell mir erzählt und was mein Gehirn mir erzählt, ist verschieden, aber beides zusammen ist real. Eines allein bildet die Wirklichkeit nicht ab. So entstehen Zerrbilder.

Quelle: brand eins - Wirtschaftsmagazin, 11. Jahrgang Heft 08 August 2009
Ein Gespräch über Wunschenergie und den lebensnotwendigen Überschuss an Möglichkeiten.

Für den Schriftsteller, Filmregisseur, TV-Produzent Alexander Kluge,77, ist das Nützliche allein nicht lebensfähig.
Zuletzt ist sein Filmessary "Nachrichten aus der ideologischen Antike" erschienen (Filmedition Suhrkamp).
Derzeit arbeitet er an einem Film über die Weltwirtschaftskrise.