Thursday 26 November 2015

Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens: Von Humberto Maturana und Francisco Varela

DASEINSCHAFFEN – EINER WELT. – WIR BEDEUTEN UNSERE WELT SELBST. ERSCHAFFEN DIE WELT GEMEINSAM. JEDER AUF EINE ANDERE ART UND WEISE. WIR GEHEN UNS STÄNDIG SELBST AUF DEM LEIM. SIND VERHAFTET. HABEN AN-GEHAFTETE, GE-DEUTETE AN-SICHTEN. WOLLEN BE-GREIFEN. IN DEN GRIFF NEHMEN. – (REALITÄT) ERWEIST SICH ALS EIN KONZEPT, ALS EIN MODELL, ALS EINE LANDKARTE, DIE DIE LANDSCHAFTEN NICHT ABBILDEN KANN. ALL DAS SIND ÜBERZEUGUNGEN ODER IDEOLOGIEN – WIR LEBEN STETS IM BEZOGEN-SEIN AUF ETWAS. – EBENSO RE-AKTIV: MIT ECHOS, RESONANZEN UND SCHWINGUNGEN...
Wir neigen dazu, in einer Welt von Gewissheit, von unbestreitbarer Stichhaltigkeit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, dass die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiss erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alter, unter unseren kulturellen Bedingungen, ist dies die übliche Art, Mensch zu sein.
Wenn wir unsere ganz eigenen Gewissheiten nicht aufgeben, werden wir nicht in eine Erfahrung als ein wirksames Verständnis des Phänomens der Erkenntnis in seiner Erfahrung eingehen können. 
Zum anderen, weil jede kognitive Erfahrung – wie diese, wenn wir das Phänomen der Erkenntnis und die daher rührenden Handlungen näher betrachten, den Erkennenden in sehr persönlicher, da in seiner biologischen Struktur verwurzelter Weise einbezieht. 
Dabei erweist sich jede Erfahrung der Gewissheit als ein individuelles Phänomen, dass gegenüber der kognitiven Handlung des Anderen blind ist. Dies ist eine Einsamkeit, die – wie wir sehen werden – nur in einer Welt zu überwinden ist, die wir gemeinsam mit dem anderen schaffen.
Nichts von dem, was hier vermittelt wird, kann wirklich verstanden werden, wenn sich der Leser nicht persönlich angesprochen fühlt, wenn er es nicht unmittelbar in einer Weise erfährt, die über die bloße Beschreibung dieser Erfahrung hinausreicht.
Eine Beschreibung des Universums bedarf eine Beschreibung des »Beschreibers«, also des Beobachters, dessen Beschreibung als Lebewesen den Biologen zufällt.
Der »Beobachter« – ein Lebewesen in der Sprache – wird in den Mittelpunkt jeden Verstehens und jeder Realitätsauffassung gestellt. Realität ergibt sich dabei aus dem erkennenden Tun des Beobachters, der Unterscheidungen trifft und somit den Einheiten seiner Beobachtung Existenz verleiht. Francisco Varela und Humberto Maturana fassten ihre Erforschungen im 1984 erscheinen Forschungs-Werkes in einem Buch zusammen: Der Baum der Erkenntnis – Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens – Das Erkennen erkennen – Die Organisation des Lebendigen – Geschichte: Fortpflanzung und Vererbung – das Leben der »Metazeller« – das natürliche Driften der Lebewesen – Verhaltensbereiche – Nervensystem und Erkenntnis – Die sozialen Phänomene – Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein.
Varela nennt diesen kognitiv-kreativen Prozess das »Ontieren« – Daseinschaffen – einer Welt. 
Realität erweist sich als ein Konzept. Allerdings brauchen wir nicht auf dem Begriff zu verzichten, wenn wir ihn in Klammern schreiben. (Realität) – so geschrieben steht der Begriff für subjektgebundene Konstrukte, die, einmal mit anderen Menschen abgestimmt, den Charakter des Realen, das heißt, des von uns unabhängig Existierenden, bekommen. 
Die traditionellen Grenzen zwischen harter Wissenschaft und weicher Philosophie werden dabei irrelevant. Anekdotisch wird dies durch die Schilder deutlich gemacht, die an der Tür des Instituts hängen, an dem beide Autoren in Santiago arbeiten: Zusätzlich zu den alten gedruckten Schildern »Instituto de Neurobiologia« und »Epistemologia Experimental« steht handgeschrieben: »Neurofilosofia«!
Beim Lesen des Buches wird der Leser immer wieder auf neuartige Begriffe stoßen. Er wird jedoch erkennen können, dass sie sich nicht bloß um neue Wörter handelt, sondern um Konzepte, die eine explizit definierte Denkart widerspiegeln. Sie öffnen uns eine Fülle neuer Dimensionen des Denkens, indem sie uns von den allzu gewissen Zwangsläufigkeiten in einer «objektiven», von uns unabhängigen Welt befreien. 
Unter anderem stoßen wir auf Konzepte wie Autopoiese (sich selbst erschaffen) als grundlegende Mechanismus des Lebendigen, Metazeller als Erweiterung des Begriffs Vielzeller, natürliches Driften anstatt natürlicher Auslese, operationale Geschlossenheit als kennzeichnendes Merkmal lebender Systeme und des Nervensystems.
Außerdem wird Sprache hier als Bedingung des Menschlichen und der Existenz des Beobachters verstanden und schließlich Liebe als Bedingung der Sozialisation.
Allem anderen übergeordnet steht immer wieder das erkennende Tun des Beobachters, dem seine Erkenntnis sozial bindend und ethisch verpflichtend werden, da diese infolge der gemeinsamen biologischen Beschaffenheit des Menschen in ihrer Koordination mit anderen Menschen gemeinschaftlich verankert sind. Eine Ethik wird sichtbar, die darauf gründet, dass wir nur in der Welt existieren, die wir uns mit anderen zusammen schaffen und die auf uns zurückwirkt, alsso in einer sozialen Welt, in der wir auf den anderen angewiesen sind und die daher das Akzeptieren des anderen voraussetzt.
Dem philosophisch bewanderten Leser wird einiges als bekannt vorkommen. Die Autoren akzeptieren durchaus, dass es zwischen ihrem Denkgebäude und zum Beispiel dem von Kant, Wittgenstein, Bateson und anderen Ähnlichkeiten gibt – jedoch mit Sicherheit keine vollständige Überlappung. Vor allem im Vergleich mit philosophischen Erkenntnistheorien unterscheidet sich das Werk Maturanas und Varela darin, dass sie als Biologen die biologischen Grundlagen des Erkennens zum Gegenstand der Untersuchung machen, womit sie selbst als Lebewesen zum Gegenstand Ihrer eigenen Beobachtungen werden.
Die Autoren setzten sich mit dem vorliegenden Band zwei Hauptziele: Der Leser soll dazu verführt werden, einmal sich selbst als Produkt derselben Mechanismen zu begreifen, die ihm das Stellen der Frage erlauben, wie er sich und seine Welt erkennen kann. 
Zum anderen soll er zu der Einsicht geführt werden, dass wir nur über die Welt verfügen, die wir – in Liebe – mit anderen zusammen hervorbringen und zu verantworten haben. Und dennoch ist dies keine Einladung zum Solipsismus – nichts außer dem eigenen Bewusstsein existiert –, wie der Leser wird erkennen können.
(Realität) ist subjektiv, wir brauchen nicht auf diesen Begriff zu verzichten. Indem wir ihn in Klammer schreiben, weisst er uns auf die individuelle Subjektivität hin. Denn jeder einzelne Mensch lebt in seinen ganz eigenen Welten, Weltsichten, Weltbezügen und Welt-Beziehungen.
Wir neigen dazu, in einer Welt von Gewissheit, von unbestreitbare Stichhaltigkeit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, dass die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiss erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alter, unter unseren kulturellen Bedingungen, ist dies die übliche Art, Mensch zu sein.
Humberto Maturana erzählt hierzu gerne, dass er selbst um 1960 beim Herangehen an die Folgen der grundsätzlichen Rekursivität (Rückbezüglichkeit) allen Erkennens derart den Boden unter den Füßen verlor, dass er an der Normalität seines Geistes gezweifelt hat. Andererseits wird dieses Buch bereits eingelesenen Kenner im Vergleich zu früheren Schriften wohltuend verständlich, umfassend und reich an konkreten Beispielen vorkommen.
Gregory Bateson soll kurz vor seinem Tod bemerkt haben, dass die neuen Impulse zu einer biologisch begründeten Erkenntnistheorie aus Santiago zu erwarten seien. So fehlen Maturana und Varela beziehungsweise Vertreter ihrer Ideen seit etwa Ende der sechziger Jahre bei kaum einem wichtigen Kongress von Kybernetikern.
Dies beginnt zunehmend auch für andere Wissenschaftsbereichen zu gelten, wie zum Beispiel für die Sozial- und Sprachwissenschaften, die angewandte Mathematik und für die Psychotherapie. Im engeren Bereich des letztgenannten Faches, in der Familientherapie und insbesondere in der so genannten systemischen Therapie, bieten die Autoren dem Therapeuten, der es aufgegeben hat, Pathologisches im Inneren einer Person zu suchen und sich stattdessen mit sozialen Systemen befasst, einen umgreifenden und begründeten konzeptuellen Rahmen für seine Arbeit mit Klienten, Patienten und Familien.
Im Gegensatz dazu scheint die Aufnahme ihres Denkens im Bereich der akademischen Biologie und anderer Naturwissenschaften zur Zeit noch eher zaghaft zu sein. Die Begründung dafür liegt auf der Hand und hat viel mit dem zu tun, was Thomas Kuhn «die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» genannt hat.
Denn hier wird eine Herangehensweise an Fragen der Wissenschaft gewählt, die mit der traditionellen Wissenschafts-Auffassung zumindesten auf den ersten Blick wenig verträglich erscheint. So müssen viele der hier dargelegten Gedanken für den, der darauf besteht, Wirklichkeit und Erkenntnis als voneinander unabhängig zu betrachten, vermutlich fremd und «bloß» philosophisch wirken. 
Dabei gibt es eine tiefe Entsprechung zwischen diesen Gedanken und der 1972 vom Kybernetiker Heinz von Foerster formulierten Forderungen an die Wissenschaft: «Eine Beschreibung des Universums bedarf einer Beschreibung des «Beschreibers», also des Beobachters, dessen Beschreibung als Lebewesen den Biologen zufällt.
Erkennen erkennen. Und bitte nicht verzweifeln.
Quelle:
Buch: Der Baum der Erkenntnis – Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens:
Von Humberto Maturana und Francisco Varela

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